Stalinismus und Exil. Biographien im Kontext des Terrors
(Stand Oktober 2006)
Das Projekt will verschiedene Biographien von deutschen Emigranten im Kontext des stalinistischen Terrors detailliert nachzeichnen. Dies ist durch die Erschließung von Moskauer Archivalien möglich geworden: Personalakten, Spitzelberichte und Verhörprotokolle der Geheimpolizei lassen neue Aussagen über individuelle Lebensläufe und das Herrschaftssystem von Überwachung und Denunziation zu.
Eine dokumentarische Studie wird sich mit dem Schicksal den jüdischen Ärzten Martha Ruben-Wolf und Lothar Wolf in der Sowjetunion befassen. Die beiden verfassten in den zwanziger Jahren propagandistische Broschüren über ihre Russland-Reisen in denen sie unter anderem die legale Abtreibungspraxis in der Sowjetunion priesen. 1933 flüchteten sie - als Juden und Kommunisten in Deutschland von der Verhaftung bedroht - über die Schweiz, wo sie auf Brecht, Bernard von Brentano und Feuchtwanger trafen, 1934 nach Moskau. Zahlreiche Ego-Dokumente berichten über ihre fortschreitende Desillusionierung nach dem Abtreibungsverbot, über Alltag, Denunziation und Überwachung im Moskau der dreißiger Jahre. Nach der traumatisch erlebten Verhaftung ihres Ehemanns beging Martha Ruben-Wolf im Jahre 1940 Selbstmord.
Eine weitere Fallstudie, die gemeinsam mit Jürgen Zarusky (Institut für Zeitgeschichte, München) erstellt wird, widmet sich Anna Etterer und Franz Schwarzmüller. Als KPD-Mitglieder waren sie nach 1933 sowohl der nationalsozialistischen wie der stalinistischen Verfolgung ausgesetzt. In mehreren Briefen schilderte Anna Etterer den Alltag im GULAG. Ihren Lebenswillen gewann sie aus dem Wunsch ihre Tochter wieder zu sehen. Franz Schwarzmüller- der zahlreiche Eingabe zur Rettung Anna Etterers an Stalin, Dimitroff, Berija und Pieck verfasste - verschwieg in seinen Briefen den Tod der Tochter. In der Korrespondenz vermischen sich paranoide Feindbilder, internalisierte Erklärungsmuster für den Terror und verzweifelte Resistenz. Franz Schwarzmüller kam 1942 im Lager ums Leben. Anna Etterer war nach dem Krieg zunächst parteitreue KPD-Funktionärin in München, dann Mitarbeiterin der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft in der DDR.
Die dritte Fallstudie befasst sich mit der Schriftstellerin Maria Osten, die 1942 in ihrem "Traumland" Sowjetunion als angebliche "deutsche und französische Agentin" erschossen wurde. Maria Osten war in Berlin, Prag, Paris, Moskau und Spanien, sowie in unterschiedlichsten Milieus zuhause. Die Orte mit ihren jeweiligen Bezugspersonen und Briefpartnern wie Brecht, Benjamin, Feuchtwanger, Kolzow, Malraux, oder Hemingway zeigen den Kommunikationsraum des Exils und illustrieren, dass Maria Osten eine west-östliche Mittlerin war. Die Schriftstellerin war der permanenten Überwachung durch Stalins Geheimpolizei ausgesetzt und wurde am 8. August 1942 in Saratow vom NKWD erschossen. Verhörprotokolle, zahlreiche Spitzelberichte wie die Denunziationen durch ihre männlichen Schriftstellerkollegen sowie Anklageschriften erhellen die Binnenstruktur und Verfolgungstechnik des stalinistischen Terrors. Die persönliche Tragödie Maria Ostens erlaubt einen Blick auf Nationalsozialismus und Stalinismus als Herrschafts- und Terrorsysteme im "Zeitalter der Extreme".
Das Projekt befasst sich zudem mit der bisher nicht bekannten politischen Biographie Heinrich Blüchers, dem Ehemann Hannah Arendts, der bis 1936 Mitarbeiter des illegalen "Militärapparats" der KPD war. Vorbereitet wird zudem ein Beitrag über "Heinz Neumann. Bußrituale eines stalinistischen Glaubensvirtuosen".