Rechtsstaatlichkeit in Europa - Die deutsche, spanische und italienische Politiktradition in vergleichender Perspektive

Die deutsche Politik- und Verfassungstradition lässt sich ohne die Idee des Rechtsstaats nicht verstehen. Seit dem frühen 19. Jahrhundert ist der Rechtsstaat eine der zentralen Figuren deutschen politischen Denkens. In der öffentlichen Diskussion wird das Wort "Rechtsstaat" heute allerdings häufig verflacht gebraucht. Es steht als Kurzformel für einen Staat, der als rechtmäßig und zugleich als gerecht erscheint. Das Wort ist zum Synonym für die liberal-demokratische politische Ordnung geworden. Diese diskursive Vereinfachung ist jedoch keineswegs selbstverständlich. Sie ist das Produkt einer vielschichtigen Entwicklung in der politischen wie in der juristischen Theorie und Praxis.

Rechtsstaat und Demokratie in der Spannung

Die positive Verwendung des Begriffs der Rechtsstaatlichkeit beruht dabei auch auf einer Besonderheit des Deutschen, die in anderen Sprach- und Rechtstraditionen kaum nachvollziehbar ist. Die Worte für Recht und Gerechtigkeit haben im Deutschen dieselbe Wurzel. Während im Englischen und Französischen Gerechtigkeit und Recht (law/justice, droit/justice) also getrennte Bereiche bilden, verweisen beide Begriffe im Deutschen etymologisch aufeinander. Mit der Verbindung von Recht/Gerechtigkeit und Staatlichkeit ergibt sich so eine ambivalente Tradition. Zum einen werden Recht und Staat damit am Maß ihrer Gerechtigkeit gemessen. Legitime Herrschaft muss sich also als gerechte Herrschaft rechtfertigen und erweisen. Zum anderen aber wird Staatlichkeit auch auf den Bereich des Rechts verengt. Gerechtigkeit wird zum Produkt nicht politischer, sondern juristischer Prozesse.

Europa in der Krise

In der gegenwärtigen Europakrise gewinnt eine solche vergleichende Verfassungstheorie neue Relevanz. Im politischen Diskurs wird ein Gegensatz zwischen Nord- und Südeuropa hergestellt. Einem wirtschaftlich unproduktiven Süden, in Griechenland, Spanien, Portugal und Italien wird ein wirtschaftlich gesunder Norden mit Deutschland im Zentrum gegenübergestellt. Dementsprechend erscheinen auch die politischen Ordnungen der südeuropäischen Länder als unproduktiv und korrupt. Sie erscheinen als ungebändigte Demokratien. Ordnung kann daher, so die politische Rhetorik, nur durch eine Aushebelung dieser politischen "Unordnungen" hergestellt werden. Die Vorstellung vom Vorrecht der rechtlichen und wirtschaftlichen Ordnung vor dem demokratischen Prozess wie er sich im frühen Rechtsstaatsdenken ausdrückte, wird hier wieder sichtbar.

Die Verquickung von Recht und Staatlichkeit im europäischen Rahmen aufzuarbeiten und zu bewerten ist Ziel des Projekts ‚Rechtsstaatlichkeit in Europa’. Zwar bildet die Tradition der deutschen Rechtsstaatlichkeit tatsächlich einen Sonderfall im europäischen Rahmen, dennoch lassen sich hier auch Ähnlichkeiten gerade mit den südeuropäischen Staaten erkennen. Deutschland teilt mit Spanien, Griechenland, Italien und Portugal die Erfahrung der diktatorischen Herrschaft. Gerade in Spanien gibt es daher eine direkte Übernahme rechtsstaatlicher Prinzipien aus der deutschen Verfassungstheorie. Gegenstand der Forschung soll also eine vergleichende Untersuchung der spanischen, italienischen und deutschen Verfassungstradition sein. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang: Wie verhalten sich die Staats- und Rechtstraditionen der südeuropäischen Staaten zu derjenigen Deutschlands? In welchem Verhältnis stehen Demokratie und Recht in diesen Ländern? Aus einer solchen Perspektive, so die These des Projektes, wird die Teilung Europas in Nord- und Südeuropa unplausibel. Vielmehr wird die politisch-verfassungsrechtliche Verwandtschaft Deutschlands zu Südeuropa sichtbar.