Zeitordnungen der Neuen Linken.
Die Studie untersucht den Wandel des Fortschritts- und Zukunftsverständnisses der westdeutschen Neuen Linken im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Sie schließt einerseits an jüngere historische Untersuchungen über Zeit und Temporalität an und andererseits an die zeitgeschichtliche Forschung zur Transformationsphase nach 1989/90. Indem das Projekt am Beispiel der westdeutschen Neuen Linken nach dem Ost-West-Transfer fragt, will es dazu beitragen, die Dimensionen der „Kotransformation“ (Philipp Ther) im Westen auszuloten.
Historiker*innen verstehen die letzten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts als eine Phase des tiefgreifenden, strukturellen und kulturellen Wandels, den sie mit Leitbegriffen wie „Trente Glorieuses“ bzw. „Geschichte nach dem Boom“ beschreiben. In der Wahrnehmung der Zeitgenoss*innen ging dieser Wandel mit einer wachsenden Fortschrittsskepsis und einem schwindenden Glauben an große Sozialutopien einher. Der Zukunftsoptimismus, der bis dahin das moderne Denken gekennzeichnet hatte, schien durch Vorstellungen ersetzt zu werden, in der die Zukunft einer Gestaltung durch den Menschen entzogen war. Damit standen zugleich die ideengeschichtlichen Grundfesten der Neuen Linken in Frage, wurzelte der von ihr angestrebte Sozialismus bzw. Kommunismus doch in der Fortschrittsidee.
Das Projekt untersucht wie der Wandel der Zeitordnungs- und Zukunftsvorstellungen innerhalb der westdeutschen Neuen Linken wahrgenommen und gedeutet wurde und welche Rolle die Entwicklung des „Realsozialismus“, insbesondere in der DDR, dabei spielte. Geleitet wird die Analyse durch die Kategorien Erfahrung, Erwartung und Enttäuschung. Damit greift die Studie Impulse von Reinhart Koselleck auf, der in seinen begriffsgeschichtlichen Arbeiten gezeigt hat, wie aus der jeweils historisch spezifischen Spannung von Erfahrung und Erwartung gesellschaftliche Zeitordnungsvorstellungen entstehen. Ergänzt wird dies um Fragen nach dem Umgang mit Enttäuschungen, insbesondere nach dem sogenannten Erwartungsmanagement. Damit sind Erwartungsverlagerungen und Erwartungstransformationen gemeint, die auf Enttäuschungserfahrungen zurückzuführen sind (Bernhard Gotto, Konrad Sziedat).
Mit den Spontis, dem Sozialistischen Büro und den Autonomen nimmt die Studie drei wichtige Strömungen der undogmatischen Neuen Linken in den Blick. Ziel ist es, eine Sozial- und Kulturgeschichte der Neuen Linken mit Überlegungen zur „Kotransformation“ in Westdeutschland zu verbinden.
(Stand: September 2022)